Leseprobe:
Der Sturz des Geiers (Erzählung in "Geschichten aus der Streusandbüchse")
Es lag nichts Dienstliches an, auch hatte er keine Lust, etwas anliegen zu lassen. Kurz entschlossen rief er seinen Kollegen im Nachbardorf an und verabredete sich mit ihm für den zeitigen Nachmittag. Auf dem Weg zu ihm fuhr er am Dorfkonsum vorbei, um die erforderlichen Getränke einzukaufen. Das Moped stellte er neben dem Fahrradständer ab und ging hinein.
Gleich an der Tür stand ein Tischchen, auf dem die Kunden ihre Einkäufe vom Korb in die Tasche umpacken konnten. Der Geier lehnte seine Aktentasche an ein Tischbein und ging zu den Regalen hinüber. Mit sechs Bier und einer Flasche "Goldbrand" im Korb kam er zur Kasse, bezahlte und griff unter den Tisch nach seiner Tasche. Seine Hand fasste ins Leere. Suchend tastete er weiter, dann bückte er sich - die Tasche war weg. Der Geier zuckte zusammen. Er vermutete einen Streich.
Mit finsterer Miene ging er die Verkäuferin an, die angab, nichts gesehen zu haben. Der Geier lauerte auf ein verräterisches Grinsen, auf ein verschmitztes Leuchten in ihren Augen, doch es kam nichts. Sie saß mit dem Rücken zum Tischchen und hatte wirklich nichts sehen können. Der Geier eilte durch den Laden. Vor den Kästen mit den Milchflaschen standen zwei alte Weiber und schwatzten. Außer ihnen war niemand im Laden. Der Blick des Geiers wanderte an den Regalen entlang, sprang in Nischen und Fächer. Nichts, die Tasche war verschwunden. Der Geier kaufte einen billigen Beutel aus Dederon für seine Flaschen. Beim Bezahlen war ein leichtes Zittern in seinen Händen.
Noch einmal versuchte er, etwas aus der Verkäuferin herauszuholen, doch die war im Denken nicht gerade schnell und ließ obendrein noch eine kesse Bemerkung über seinen Einkauf fallen. Der Geier war bis zum Zerbersten gespannt. Er verbot den alten Frauen, den Konsum zu verlassen, durchsuchte den Laden und verlangte, das Lager zu sehen. Die Verkäuferin reagierte darauf ziemlich ruppig, schließlich hatte sie Wichtigeres zu tun, als über die abgestellten Taschen der Kunden zu wachen. Der Geier glaubte Schadenfreude in ihrem Gesicht zu erkennen, zumindest deutete er das Zucken um ihre Mundwinkel so. Aber er wusste nicht weiter. Er ermahnte die Verkäuferin, beim Auffinden seiner Tasche diese ungeöffnet sicherzustellen; sie enthalte wichtige dienstliche Unterlagen.
"Sonst gibt's hier ein Donnerwetter", versicherte der Geier, als er den Konsum verließ. Draußen stieg er auf sein Moped und jagte ins Nachbardorf.
Das Dienstzimmer seines Freundes, Oberleutnant Hagestolz, war ein Raum im Häuschen der freiwilligen Feuerwehr. Hier war er ungestört, denn nur zu abendlichen Versammlungen oder am Wochenende wurde der andere Teil des Gebäudes genutzt. Hagestolz und der Geier hatten das stets als angenehm empfunden.
An diesem Tag aber kam der Geier ins Büro gestürzt, und der Quatschkopp, der gerade über einem Bericht saß und auf seinem Kugelschreiber kauend seinen Belanglosigkeiten Bedeutung beizumessen suchte, merkte sofort, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Nie zuvor hatte er den Geier unbeherrscht gesehen.
"Ich bin erledigt", sagte der Geier tonlos.