Leseprobe:
Julius Klein und das Auge der Götter
Die Häuser blieben zurück, Bäume säumten jetzt den Wegrand. Die Pflasterung der Straße endete und der Wagen rollte über Sand. Es ging steil bergauf und die Pferde wurden langsamer. Unerwartet verbesserte sich die Sicht. Graute etwa schon der Morgen? Wir ließen ein Wäldchen hinter uns und kamen auf eine freie Fläche. Wir hatten die Kuppe des Hügels erreicht.
Daimon brachte die Pferde zum Stehen. Die schnaubten nach der wilden Fahrt und scharrten aufgeregt mit den Hufen. Als Erstes spürte ich den Luftzug, der über den Hügel wehte. Er war nicht zu stark und gleichmäßig, gut geeignet für das Vorhaben. Starker, böiger Wind hätte den Flug unmöglich gemacht. Noch war es dunkel genug. Der Eindruck, der Tag würde sich ankündigen, bestätigte sich nicht. Allerdings waren die Lichtverhältnisse merkwürdig. Ein fahler Schein ließ die Konturen der Landschaft deutlich hervortreten. Dabei blieb der Himmel weiter hinter Wolken verborgen und weder Mond noch Sterne zeigten sich.
Für einen Augenblick standen wir vor dem steilen Abhang und sahen vor uns im Tal die in Finsternis getauchten Häuser von Athen. Seitlich davon lag wie ein Scherenschnitt die Silhouette der Akropolis mit ihren Bauten. Von den Nebeln, die sich in die Gassen und Niederungen der Stadt gesenkt hatten, war hier oben nichts zu spüren.
Ich sah zum Himmel hinauf und erstmals hatte ich den Eindruck, dass es nicht Wolken waren, die ihn abschirmten, sondern eine feste, undurchdringliche Masse. Über der Stadt schien sich eine Kuppel gebildet zu haben, die sie von der Außenwelt abschnitt. Ich spürte eine seltsame Unruhe. Dann sah ich, dass auch die anderen die Tätigkeiten, mit denen sie gerade beschäftigt waren, unterbrochen und den Blick nach oben gerichtet hatten.
"Solch einen Nachthimmel habe ich noch nie gesehen", sagte Daimon mit heiserer Stimme. "Dabei bin ich als Soldat überall gewesen, wo die Griechen ihren Fuß bisher hingesetzt haben. Ich war in Kolchis und bei den Säulen des Herakles und in Afrika, dort, wo die Welt endet."
"So muss es sein, wenn die Welt untergeht", meinte Nikias.
"Noch ist nichts verloren", rief der Geist. "Worauf wartet ihr? Fasst mit an!"
Wir wuchteten die Flugmaschine vom Wagen und befestigten die Tragflächen am Rumpf. Ich zwängte mich auf den Pilotensitz aus Korbgeflecht und griff nach den Steuerhebeln. Die ließen sich nur schwer bewegen und das Leitwerk reagierte träge und zeitverzögert. Die Seilzüge und Umlenkrollen waren noch nie bewegt worden, alles war neu und zu straff, was die Bedienung erschwerte. Wieder dachte ich an den Wahnsinn, die Unmöglichkeit dieses Planes. Sollte ich mich in einem Traum verirrt haben? Mit Sicherheit würde ich beim kommenden Absturz aufwachen. Ähnliches kannte ich und in meine Gedanken mischte sich schelmische Freude. In wenigen Minuten könnte dieser Traum enden und ich würde zu Hause, in meinem Bett liegend, aufwachen. So unwirklich, so unmöglich erschien mir das alles jetzt, dass es sich nur um einen Traum handeln konnte. Nur mit dieser Vorstellung konnte ich mir später meine Dreistigkeit, mich an solch einem Unternehmen zu beteiligen, erklären. Ich probierte einige Steuermanöver und gab dabei Anweisungen, ganz so, wie ich das in einem Pilotenfilm gesehen hatte.
"Wir lassen uns mit Schwung über die Felskante schieben und der am Abhang aufsteigende warme Wind wird uns wegtragen", meinte der Geist. "Es ist alles nur eine Frage der Thermik. Die Schlucht ist achtzig Meter tief, da muss es aufsteigende Winde geben."
Ich erinnerte mich, in der Schule einiges darüber gehört zu haben, doch ich bekam die Einzelheiten nicht mehr zusammen. Das aber waren die Voraussetzungen für den Segelflug und jetzt ärgerte ich mich, dass ich diese Dinge nicht mehr wusste. Ich wollte etwas Fachliches zu den anderen sagen, wollte Mut und Kompetenz beweisen, doch der Hals wurde mir eng und ich bekam kein Wort heraus. Dann war ich wieder mit der Steuerung beschäftigt. Ich wollte das Ruder auf Steigen einstellen, damit die Flugmaschine ohne Verzögerung Höhe gewann. Sie musste wenigstens dreißig Meter steigen, sonst würde sie an den Mauern der Akropolis enden. Je höher am Anfang, umso günstiger erschien es mir. Ich konnte nicht abschätzen, wie viel an Höhe der Apparat auf der achthundert Meter langen Flugstrecke durch sein Eigengewicht verlieren würde. Dabei hatte ich noch nicht einmal ungünstige Luftströmungen eingeplant. Wie sollte ich das, hatte ich doch keine Ahnung davon, wie sie wirkten. Vieles ging mir durch den Kopf und immer mehr erkannte ich, dass ich nicht über die Erfahrungen und Kenntnisse für solch ein Vorhaben verfügte.
Dann standen wir vor einem weiteren Problem. In der Flugmaschine war nur Platz für eine Person und wir überlegten, wie der Geist transportiert werden konnte. Seine rauchähnliche Körpersubstanz musste vor Wind und Luftzug geschützt werden, damit er nicht auseinander gerissen wurde. Schließlich stopften wir ihn in einen Sack, der hinter dem Pilotensitz auf dem Rumpf festgebunden wurde.
Bis zur Abbruchkante der Schlucht waren es zwanzig Meter. Nachdem die bestmögliche Gleitspur festgelegt und von Steinen und Gebüsch befreit war, wurde es ernst. Während ich die Steuerknüppel fest umklammert hielt, nahmen die anderen ihre Posi¬tionen zum Schieben an Rumpf und Tragflächen ein.
Ich überlegte, was noch zu besprechen wäre, doch da nieste plötzlich der Geist des Professors in seinem Sack. Daimon hielt das scheinbar für den Startbefehl und er brüllte: "?Loooos!" Zwölf Arme stemmten sich gegen die Flugmaschine, brachten sie in Bewegung.
Ich rief: "Halt!" und "Kommando zurück!" Doch das ging in den Rufen unter, mit denen sich die anderen gegenseitig anzufeuern bemühten.
Der Flugapparat wurde zusehends schneller und ich sah trotz Dunkelheit den Abgrund näher kommen. Dort, wo die Schlucht begann, war es stockfinster. Die Maschine sauste über die Kante. Zuerst merkte ich es, weil das Schleifgeräusch vom Erdboden ausblieb. Bruchteile von Sekunden später wusste ich es, weil die Maschine wie ein Stein nach unten fiel. Ich schrie, so laut ich konnte.