Leseprobe:
Theodoras Schleier
Der Bir Meschru unterschied sich von den gewohnten Wasserlöchern im Sand. Ein Schacht aus behauenen Steinen reichte zehn Meter in die Tiefe. Als die Nachhut eintraf, wurde unten bereits gearbeitet. Stürme hatten eine dicke Sandschicht über den Wasserspiegel gelegt. Zwei Männer schaufelten den Sand in einen der großen Schöpfeimer aus Leder, der über einen schnell errichteten Dreibock nach oben befördert wurde.
In der Zwischenzeit wurde das Nachtlager aufgebaut. Die Offiziere saßen auf Klappstühlen in der Nähe des Brunnens und rauchten. Major Horn war zuversichtlich.
"Ab jetzt müssen wir möglicherweise jede Wasserstelle freiräumen", vermutete von Borowitz. "Dafür sind jedes Mal etwa zwei Stunden einzuplanen."
"Das ist kein Problem", sagte der Major. "Wir brauchen nur alle zehn Tage Wasser."
"Es ist gut, dass wir am Brunnen lagern", meinte von Borowitz. "Die Männer sind in den letzten Tagen ziemlich still geworden. Ich glaube, jetzt kann jeder einschätzen, was noch vor uns liegt. Die Nähe zum Wasser wirkt in der Wüste beruhigend, verleiht sozusagen ein Gefühl der Sicherheit."
Laute Rufe erschallten aus dem Brunnen. Alle Soldaten, die in der Nähe waren, rannten augenblicklich zum Schacht. Wahrscheinlich war man unten auf Wasser gestoßen.
"Herr Major, das müssen sie sehen!", rief einer der Männer an der Seilrolle.
Lockeren Schritts näherten sich die Offiziere dem Brunnen. Jemand hielt ihnen einen Totenschädel entgegen, der gerade mit dem Schöpfbeutel nach oben gekommen war. Im nächsten folgten Teile eines menschlichen Brustkorbes und Beinknochen.
"Lassen Sie die Arbeiten einstellen", sagte der Major mit trockener Kehle. "Wir verzichten aufs Wasser."
Von Borowitz war vor Wochen auf seiner Erkundungsfahrt zum Tümmo am Bir Meschru vorbeigefahren, weil er ausreichend Wasser dabei hatte. Das rächte sich jetzt.
Die Wendung der Lage war unerfreulich. Bis zur nächsten Wasserstelle im Tümmogebirge waren es drei Tagesmärsche. Der tägliche Wasserverbrauch musste gesenkt werden. Horn wollte nicht, dass die Reserven angegriffen wurden. Auf Anordnung des Majors wurde jedem Soldaten zum Abendessen ein Becher Rum ausgegeben. Dadurch verbesserte sich die Stimmung.
Die Offiziere nahmen das Essen gemeinsam ein. Horn sagte gleich zu Beginn, dass er kein Gespräch über die Versorgungslage wünsche. Daran hielten sich alle. Leutnant Kühn rettete die Situation mit einem unverfänglichen Thema. Er witzelte über die Haarfarben von Frauen und darüber, ob Rückschlüsse auf bestimmte Charakterzüge möglich waren. Man hielt sich ausschließlich an Berühmtheiten der Ufa, die alle kannten. Horn ließ Cognac bringen und es entwickelte sich eine angenehme Plauderei.
Es war noch hell, als ein unerwarteter Fund hinter den Hügeln gemeldet wurde. Es waren nur wenige Minuten Fußweg und vor den Offizieren lagen die Trümmer einer Marmorsäule. Die Bruchstücke ergaben die einstige Höhe von sechs Metern. Mit Sicherheit war sie römischen Ursprungs.
Von Borowitz konnte seine Begeisterung nicht verbergen. "Man vermutet, dass es hier irgendwo eine römische Etappenstation gab, nach Agisimba regio, der Alpenlandschaft Asben. Das ist das heutige Air-Gebirge."
"Die Römer haben vom Mittelmeer aus verschiedene Militärexpeditionen in die Sahara geschickt", bestätigte Horn. "Sie waren auch in der Gegend von Mursuk."
"Das war Cornelius Balbus", berichtete von Borowitz. "Aber Julius Maternus ist bis in die Gegend des Tschadsees gelangt."
"Dann schaffen wir das auch", sagte Kühn.
"Vor zweitausend Jahren haben die Römer gezeigt, was möglich ist", erinnerte der Major.
"Ich glaube nicht, dass sich die Römer mit der Säule abgeplagt haben", meinte Bertram. "Vielleicht hat sie ein Negerfürst oder ein Sklavenhändler aus Tripolitanien mitgenommen. Aus irgendeinem Grund hat man sie hier zurückgelassen. Man sagt, hinter Tedjerry beginnt die Zone der Sandstürme. Vielleicht enden an dieser Stelle alle Spielereien."
"Auch wir haben den Fessan verlassen", erinnerte der Major. "Jetzt wird's ernst. Wir werden also die deutschen Uniformen ablegen. Der Weitermarsch erfolgt unter Volltarnung."
"Sie vermuten, dass die Franzosen im Tümmo sind?", fragte Bertram.
"Das ist nicht auszuschließen", antwortete der Major. "Es gibt nur einen Weg durchs Gebirge und den kann man mit geringem Aufwand kontrollieren. Immerhin gibt es dort Wasser, das erleichtert die Versorgung."
"Gibt es hier noch andere Wasserstellen?", fragte Bertram. "Falls wir aus irgendeinem Grund getrennt werden." Er wusste, dass die Eintragungen in der Karte fehlerhaft waren.
"Nur die im Tümmo", sagte von Borowitz. "Wenn wir nicht durchkommen, müssen wir zurück nach Tedjerry."
"So einfach werden wir es den Franzosen nicht machen", versicherte der Major. "Wenn überhaupt, können dort nur schwache Kräfte unterhalten werden. Mit denen werden wir fertig."
"Unser Spielraum ist begrenzt", meinte von Borowitz. "Wenn wir das Tümmo erreichen, haben die Kamele seit Gatrun nicht mehr getrunken. Das ist unbedenklich, auch der eventuelle Rückzug nach Tedjerry. Auf einen Kampf aber, der über Tage geht, können wir uns nicht einlassen."
"Ich habe nicht vor, mich lange mit den Franzosen aufzuhalten", erklärte der Major. "Alle Bedenken wurden im Vorfeld der Aktion bereits durchgekaut. Ohne Siegeszuversicht und Gottvertrauen entstehen in der Truppe Zweifel an der ganzen Operation, daran sollten alle denken." Er entschuldigte sich, Kopfschmerzen plagten ihn. Er machte sich auf den Weg zurück zum Lager, um sein Medikament zu nehmen.
Leutnant Kühn begleitete ihn, er nutzte die Gelegenheit, den Major unter vier Augen zu sprechen. Sie waren außer Hörweite, aber Bertram glaubte erkennen zu können, dass es für Kühn wichtig war.
Von Borowitz schob mit der Stiefelspitze einen Totenschädel zur Seite. Auch hier lagen Knochen, die teilweise bereits stark zerfallen waren.
"Wie auf einem Friedhof, den man umgewühlt hat", verglich der Hauptmann. "An den Anblick müssen wir uns gewöhnen. Hier entlang zogen die Sklavenkarawanen aus Schwarzafrika zum Mittelmeer. Man nannte den Weg: 'Straße der Tränen'. Noch vor ein paar Jahren konnte man die Piste nicht verfehlen, man folgte einfach der Spur der Gebeine. Jetzt hat der Sand alles zugedeckt, aber gelegentlich kommt man auf felsigen Untergrund oder an eine Stelle, die der Wind freigelegt hat."