Leseprobe:
Frühling in Sibirien
"Oh, wir reden wieder von der Glückssträhne!", sagte jemand hinter meinem Rücken. Es war die Stimme einer Frau.
Ich drehte mich um und erblickte zwei Frauen, offenbar waren sie gerade dabei gewesen, an unserem Tisch vorbeizugehen und hatten ein paar Wörter aufgeschnappt. Die eine kannte ich, es war Claudia, die Geschiedene von Henning Cross. Sie war wie ihre Begleiterin in einem modischen Business-Kostüm gekleidet, unverkennbar edelste Markenqualität. Make-up und Frisuren waren darauf abgestimmt. Die beiden waren die Fleisch gewordene teuerste Eleganz. Zwei Männer - auf jung und dynamisch getrimmte Mittvierziger, die in Maßanzügen steckten - gehörten zu ihnen. "Geht schon zum Tisch und bestellt", sagte Claudia zu den Männern. Die nickten brav und entfernten sich, während die Frau bei Claudia blieb.
"Wie viele Zahnärzte hast du heute wieder um ihr Geld gebracht?", fragte Henning seine Ehemalige. "Oder findest du nicht mehr genug Vollidioten für deine Kapitalanlagen?"
Claudia wechselte kaum merklich die Gesichtsfarbe, was mir ein leichtes Grinsen entlockte.
"Das ist mein geschiedener Mann", sagte Claudia zu ihrer Begleiterin. "Ich habe dir schon von ihm erzählt. Die anderen sind die verkrachten Existenzen, mit denen sich mein Ex-Gatte immer zum Fachsimpeln trifft. Obwohl diese Stadt ziemlich groß ist, hast du nicht oft die Gelegenheit, so viele Versager gleichzeitig zu treffen. Mich motiviert nur ein Gedanke: Wenn ich es nicht schaffe, dann lande ich an diesem Tisch. Mein Mann war mal der große Computerexperte. Seit seiner Pleite ist er der älteste Fahrrad-Kurier von Frankfurt. Er hat eins nicht begriffen: Das Leben läuft nicht ab wie in einem der Computerspiele, die er mal zusammengebastelt hat. Man hat nicht zehn Leben. Man bekommt kein neues Leben, wenn man einen guten Treffer gelandet hat. Man hat nur ein Leben und daraus muss man das Beste machen... Aber kommen wir zu den anderen. Der Kahlrasierte dort ist Tommi, der hat mal Psychologie studiert, natürlich ohne Abschluss. Seine Eltern sind pensionierte Beamte und haben ihn durchgefüttert. Nachdem er ihre Ersparnisse am neuen Markt verzockt hat, könnte sich ihr Verhältnis verschlechtert haben. Solange ich ihn kenne, träumt er in den Tag hinein, hat aber den Kopf voller Rosinen. Daneben sitzt Alf, der Werbegrafiker. Sein größtes Werk ist eine gebratene Schweinshaxe in Öl gemalt. Davon gab?s vor Jahren mal ein Plakat.
Den Allergrößten habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Der so dümmlich grinst, ist Basti, die Denkmaschine. Der hat ein paar Jahre alte Geschichte studiert. Danach - und das musst du dir auf der Zunge zergehen lassen - zwanzig Semester Philosophie. Nebenbei hat er in der Weinstube an der Ecke gekellnert und die Gäste mit seinen Weisheiten müde gemacht. Jetzt schreibt er Schnulzenromane für die Dame ab siebzig." (Sie wandte sich an Henning.) "Weil er hier der große Denker ist, kann er dir sicher auch erklären, was er sich damals gedacht hat, als er mich flachlegen wollte. Damals waren wir noch verheiratet - Schönen Abend noch."
Die beiden Frauen entfernten sich. An unseren Tisch herrschte erst einmal Schweigen. Ich fasste mich als Erster und sagte: "Na, die hat?s uns aber gegeben."
"Stimmt das, was sie gesagt hat?", fragte Henning ernst.
"Sie wollte uns nur runtermachen", meinte ich.
"Sie hat ihren Anlegern sicher nie die Wahrheit gesagt", erwiderte Henning, "aber im Privaten hat sie nie gelogen. Außerdem kenne ich dich."
"Ich erinnere mich an keine konkrete Situation", versicherte ich. "Vermutlich hat sie mal was falsch verstanden. Ich hatte wirklich nie die Absicht?"