Leseprobe:
Nicht immer ist es Mord
Auszug aus dem Kapitel: "Geschichtliche Entwicklung des Mordparagrafen"
Wichtig für das Verständnis, wie sich die Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag vollzieht, ist die Klärung, warum überhaupt begrifflich zwischen Mord und Totschlag unterschieden wird, ist doch das Resultat, der Tod eines Menschen, dasselbe.
Dass der Mord vom Wortsinn her schwerer wiegt als der Totschlag, ist jedem einleuchtend. Doch warum ist das so? Die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag hat historische Gründe und beruht wahrscheinlich auf soziologischen Motiven. Die Differenzierung geht weit in das Mittelalter zurück. Der Mensch definierte sich damals über seine Ehre. Wie William Shakespeare schrieb: "Ehr" ist des Lebens einziger Gewinn; nehmt Ehre weg, so ist mein Leben hin. - In der Ehre verdichtete und vernetzte sich persönliche, soziale, private und öffentliche Existenz. Das Leben ganzer Gruppen, Schichten und Ständen wurde über die Ehre durch Selbst- und Fremdeinschätzungen bestimmt. Somit richteten sich auch die Strafen auf Ehrverletzungen aus, wie z.B. das "An-den-Pranger-stellen" in der Frühen Neuzeit. Ehre zu besitzen, war bis weit in das 19. Jahrhundert hinein von existenzieller Bedeutung. Dies zeigt sich unter anderem an der Popularität von Duellen bei Ehrverletzungen im Feudalismus und im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft.
Ehre war schon im Mittelalter für die Unterscheidung von Mord und Totschlag das maßgebliche Kriterium. Der Totschläger starb den nicht entehrenden Tod durch das Schwert. Dieses Privileg konnte der Täter nur in Anspruch nehmen, wenn er im offen, fair und ehrlich geführtem Kampf tötete. Eine besonders verwerfliche Tötung dagegen grenzte den Täter von der Gemeinschaft aus, weil die Art und Weise der Tötung ihn entehrte. Nach germanischer Rechtslehre wurde bis ins 10. Jahrhundert der ehrlose Täter auch als Werwolf bezeichnet. Die germanische Bedeutung für "?Wolf" meint sowohl das Tier, als auch "geächtet"; "Wer" heißt soviel wie Mann. Dies unterstreicht noch einmal die Missachtung des Täters.
Der Mörder war ehrlos und musste demnach, nach altdeutschem Recht, durch das Rad sterben. Das Rädern vollzog sich in zwei Akten. In einem ersten Schritt wurde der Verurteilte mit dem Rücken auf dem Boden liegend festgebunden, um ihm anschließend die Knochen mit einem großen Wagenrad einzeln zu brechen. Zur Erleichterung der Arbeit des Scharfrichters wurden dem Todgeweihten scharfkantige Holzklötze unter die Gelenke geschoben. Ein guter Scharfrichter konnte dem Mörder die Knochen brechen, ohne dass dieser das Bewusstsein verlor. Auch durfte der Tod noch nicht herbeigeführt werden. Im zweiten Schritt wurde der widerstandsunfähige Körper in die Speichen eines größeren Rades hineingeflochten. Anschließend befestigte man das Rad samt Mörder auf einem Pfahl und stellte es auf. Nicht selten dauerte es Tage, bis der Tod eintrat - ein ehrloser Tod.
Für die Unterscheidung, ob ein ehrenhafter Totschlag oder ein verwerflicher Mord vorlag, spielte damals der Vorsatz zwar eine wesentliche Rolle, reichte für sich allein aber nicht aus, um die Tötung als moralisch verwerflich darzustellen. Es bildeten sich spezielle Merkmale heraus, welche die niedrige Gesinnung des Mörders anzeigen sollten. Dazu gehörten bspw. die Begehung der Tat zur Nachtzeit oder aus Gewinnsucht, die Tötung eines Wehr- und Ahnungslosen oder die Verwendung einer verbotenen Waffe. Lag eines dieser Merkmale vor, wurde der Totschlag zum ehrlosen Mord qualifiziert und es folgte der ehrlose Tod als Strafe. Ab dem 14. Jahrhundert gewann das italienisch-kanonische Recht erheblichen Einfluss in Deutschland. Wesentlich für die Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag wurde der Vorbedacht. Dieser bezeichnet die Tatausführung mit Überlegung. Mord lag bei einer vorbedachten Tötung vor, Totschlag dagegen, wenn die Handlung unter anderem in Zorn oder Trunkenheit begangen wurde.
1507 wurden durch die "Bambergische Peinliche Halsgerichtsordnung" germanisch-deutsche und römische Strafrechtsgrundsätze miteinander verbunden. Diese Gerichtsordnung war Vorbild für das erste einheitliche Reichstrafgesetzbuch; der "Constitutio Criminalis Carolina" von 1532. Nach Art. 137 CCC wurde für die folgenden 300 Jahre als Mörder bestraft, wer mutwillig mit Vorbedacht tötete. Totschläger war, wer aus Jäheit und Zorn handelte. Noch immer wurde der Mörder unehrenhaft gerädert und der Totschläger ehrenhaft durch das Schwert gerichtet.
Erst das preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794 drängte die kanonischen Einflüsse zurück und schob germanische Rechtselemente wieder in den Vordergrund. Bloßes Handeln mit einfachem Tatvorsatz reichte für die Mordstrafbarkeit nicht mehr aus. Gemäß § 806 preußisches ALR ist, "[w]er in der feindseligen Absicht, ..., tödtet", als Totschläger mit dem Schwert zu bestrafen. Nach § 826 preußisches ALR ist, "[d]erjenige, der mit vorher überlegtem Vorsatze" tötet, als Mörder mit dem Rad zu bestrafen. Der Unterschied zwischen feindseliger Absicht und überlegtem Vorsatz ist zwar nur gering, doch wurden in den folgenden Paragrafen des preußischen ALR Merkmale genannt, welche die Tat eindeutig zum Mord qualifizierten. Dazu gehören bspw. Misshandlungen oder Grausamkeiten, die vor, bei oder nach der Tötung am Opfer vorgenommen werden, die Verwendung von Gift oder andere schwer zu entdeckender Mittel. Nach dem Code Pénal von 1810 war Totschläger, wer vorsätzlich handelte, Mörder dagegen, wer mit Überlegung tötete oder seinem Opfer - als qualifizierendes Merkmal - auflauerte.
Der Kleinstaaterei in Deutschland ist es geschuldet, dass andere Länder das genaue Gegenteil kodifizierten und erheblich zum heutigen Missverständnis beitrugen. Das bayrische StGB von 1813 betrachtete laut Art. 146 als Mörder, wer die Tat "mit Vorbedacht beschlossen oder mit Überlegung ausgeführt hat". Dieser wurde mit dem Tode durch Enthauptung bestraft. Nur Totschläger war der "ohne Überlegung und Vorbedacht in aufwallender Hitze des Zorns" Handelnde, Art. 151 bayrisches StGB. Der Totschläger wurde zu Zuchthaus auf unbestimmte Zeit verurteilt. Das preußische StGB von 1851 teilte im Wesentlichen diese Ansicht; kannte daneben aber noch das Qualifikationsmerkmal der Ermöglichungsabsicht zu einer Straftat. Nahezu ohne große Änderungen wurden die Tötungsdelikte des preußischen StGB in das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 überführt.
Die oben genannte Differenzierung zwischen Überlegung/Vorbedacht und Handeln im Zorn/Affekt erwies sich in der Folgezeit als hochproblematisch. Ein gravierender Nachteil war, dass die Strafbarkeit vom Einlassungeschick des Angeklagten abhing und der Tatrichter auf dessen Ehrlichkeit angewiesen war. Es ist kaum zu glauben, aber die Menschen logen doch tatsächlich vor Gericht, bis die Balken brachen. Eine Unsitte, die heute sicherlich nicht mehr vorkommt?!
Des Weiteren sorgte die strenge Bindung an das Gesetz häufig für - aus heutiger Sicht - ungerechte Urteile. Eine Tötung aus Mitleid, um einem im Sterben liegenden nahen Angehörigen schwerste Schmerzen zu ersparen, sprich Sterbehilfe zu leisten, war wegen der Überlegung zur Tat als Mord zu strafen. Dagegen lag bei der Tötung zur Befriedigung des Geschlechtstriebs oftmals eine situationsbedingte Handlung vor. Obwohl die Verwerflichkeit der Tat gegeben ist, fehlte es an der Überlegung zur Tat und der Täter wäre als Totschläger zu bestrafen.
(In der Leseprobe fehlen die Fußnoten/Erklärungen aus dem Text des Buches.)