Leseprobe
Tag 35 (Donnerstag, 15. November)
Gegen 8:00 Uhr kam der Griesgrämige zur Visite. Er erzählte, dass man bei meiner Einlieferung am 10. September einen unterhalb des Knies gelegenen Bruch des Wadenbeins übersehen hatte, was die späteren Fehlstellungen verursacht haben könnte. Der gebrochene Knochen hätte es anscheinend nicht geschafft, das daran befestigte Schienbein zu halten.
»Ist nicht schön, kann aber passieren«, sagte er lächelnd.
Ich sei für morgen zur OP eingeplant und erfuhr, was man zu tun beabsichtigte. Weil der unversorgt gebliebene Bruch des Wadenbeins verrutscht und falsch zusammengewachsen war, wollte man dort aufschneiden, den Knochen trennen und richtig positionieren. Ich hätte dann eine Narbe mehr, doch darauf würde es nicht mehr ankommen. Dazu müsste das Sprunggelenk beiderseitig geöffnet werden, um dort die Knochen in die richtige Stellung zu bringen. Das hatte ich bereits erwartet; die Fehlstellung würde sich nicht von selbst korrigieren.
Jetzt, wo ich die Situation kannte, war ich schockiert. Ich war nicht fähig, die Lage zu beurteilen und die Folgen einzuschätzen.
Nachdem ich mich gesammelt hatte, telefonierte ich mit Angehörigen. Es war klar, dass es wieder länger dauern würde.
Am Nachmittag zeigte sich der Arzt, der mich am Morgen über die Lage aufgeklärt hatte, noch einmal.
»Falls Sie früh nicht alles mitbekommen haben«, sagte er, »wir werden einen weiteren Schnitt über dem Knie machen, dort eine Sehne entnehmen und diese am Sprunggelenk zur Unterstützung der geflickten Bänder einsetzen. Diese Sehne ist überflüssig, man nimmt sie auch bei einem Kreuzbandriss als Ersatz.«
Ich unterschrieb einen Aufklärungsbogen, was nach meinen Aufzeichnungen zum dritten Mal geschah. Vom ersten Tag an hatte ich hier Tagebuch geführt und jedes Arztgespräch notiert. Der Hinweis, ich hätte eventuell nicht alles mitbekommen, war bemerkenswert. Vermutlich hatte ich hier tatsächlich manches nicht gemerkt.
Tag 36 (Freitag, 16. November)
Mein geschundener Fuß musste bisher fünf Operationen über sich ergehen lassen und jetzt hatte er die umfangreichste vor sich.
Weil das Bad nur zu diesem Zimmer gehörte, musste ich mich am Morgen nicht beeilen und keinem zuvorkommen. Als ich wieder im Bett lag, dehnte eine Schwester mithilfe einer trichterartigen Führung den Kompressionsstrumpf und dieser rutschte mühelos über das gesunde Bein.
»Kurz nach halb neun stelle ich Sie auf den Gang«, sagte sie. »Der Transport ist informiert und wird Sie abholen. Sie sind für neun Uhr geplant.«
Zur angekündigten Zeit wurde ich mit dem Bett am Ausgang der Station abgestellt und kurz darauf in den OP-Bereich gefahren. Im Vorraum unterhielten sich zwei Ärzte hinter meinem Rücken über Statistisches. Es ging um das Erfassen der durchgeführten Operationen. Einer sagte: »Das war schon merkwürdig. Als vorhin die Operationen ausgelost wurden, hatte sich der Chef nicht zur Disposition gestellt. Er hat nicht gesagt, dass er diese oder jene selber machen will.«
Ohne Hilfe drehte ich mich auf den Tisch, was ich bei früheren Besuchen hier nicht versucht hatte.
Ein Pfleger fragte mich, ob er mir etwas unter den Kopf legen soll, damit ich es bequemer hätte. Es war tatsächlich angenehmer für den Rücken und das erste Mal, dass jemand daran dachte.
Auf dem Rücken liegend wurde ich zum OP-Saal geschoben und sah über mir die in die Decke eingelassenen Leuchten vorbeiziehen. Darauf hatte ich zuvor nie geachtet.
Nachdem ich platziert war, trat ein Arzt an mich heran und fragte: »Weshalb halten bei Ihnen die Stellschrauben nicht?«
»Weil man einen Bruch des Wadenbeins übersehen hat.«
Er sah mich ungläubig an, drehte sich weg und ging. Vermutlich nahm er an, ich würde Unsinn reden. Er war Mitte vierzig und hatte einen Bart, der grau zu werden begann. Ich kannte ihn nicht, bei keiner Visite war er dabei gewesen. Dann sah ich, dass er in einer Akte blätterte.
Inzwischen erledigten die Schwestern letzte Vorbereitungen.
»Wo ist eigentlich die zweite stumme Schwester?«, fragte eine.
»Die ist weg. Die aus den anderen Sälen holen sich alles, was sie brauchen. Die klauen wie die Raben.«
Auf der Uhr an der Wand war es halb zehn. Ich bekam die Injektion in den Rücken, der Sichtschutz wurde aufgerichtet und ich wusste, dass es gleich beginnen würde. Eine Schwester bedeckte mich mit einer vorgewärmten Decke und leitete warme Luft darunter. Schnell empfand ich es als unangenehm. Ich sagte es ihr und sie unterbrach die Zufuhr.
Ich bemühte mich, an nichts zu denken, denn ich wollte von allem möglichst wenig mitbekommen. Hatte ich keine Eindrücke, gab es nichts, woran ich mich später erinnern würde.
Sich ganz dem Geschehen zu entziehen, ging nicht. So hörte ich, dass der Chirurg eine Beckenzange verlangte. Ich hatte keine Vorstellung, wie dieses Teil aussah, aber die Bezeichnung klang nach einem großen und schweren Werkzeug.
Trotz der Narkose spürte ich eine Bewegung der Knochen im Bein bis hinauf zur Hüfte, doch da war kein Schmerz. Dann klapperte es metallisch. Das Geräusch erinnerte mich an einen Handwerker, der in seiner Werkzeugkiste unter klobigen Gegenständen kramte und etwas suchte.
»Die Sehne brauchen wir nicht«, sagte einer der Ärzte. »Die kann bleiben, wo sie ist.«
Es gab auch Anweisungen an die Beteiligten, womit ich nichts anfangen konnte. Dann sagte jemand: »Ihr könnt schon immer den Gips vorbereiten.«
»Warum nehmen Sie nicht den alten Gipsfuß?«, fragte ich.
»Geht nicht«, sagte eine Schwester. »Der ist falsch geformt.«
Nach zweieinhalb Stunden war die OP beendet. Der Narkosearzt und eine Schwester schoben mich mit dem Bett zur Wachstation, wo jetzt weniger Patienten lagen als bei meinen früheren Eingriffen. Nur ein Viertel der Plätze war belegt.
Eine halbe Stunde nach der Operation begann die Narkose nachzulassen und ich spürte wieder das gesunde Bein. Mein Blutzucker wurde gemessen und 5,7 festgestellt.
Ich kehrte ins Zimmer zurück, erleichtert, alles überstanden zu haben. Wieder lag mein Fuß auf einer Stütze. Den Gipsverband verließen zwei Schläuche, über die Blut aus den Wunden abgeleitet wurde.
Ich kam rechtzeitig, um die Entlassung meines Mitbewohners zu erleben. Es war 14:00 Uhr, Kaffeezeit auf der Station. Eine Servicekraft brachte mir eine Tasse, wollte wohl beitragen, meine Lebensgeister zu wecken.
Eine Schwester nahm den Gipsverband ab, um ihn zu weiten. »Der wird schnell hart«, erklärte sie. »Später bekommen wir ihn nicht mehr auseinander.«
Danach informierte ich meine Frau und äußerte die Hoffnung, dass es für meinen Fuß die letzte OP gewesen sei.
Eine Schwester fragte, ob ich Wasser gelassen hätte. Weil das nicht passiert war, wetterte sie sofort: »Wenn Sie nicht Wasser lassen, muss der Doktor einen Schlauch schieben.«
Ich war verwundert. »Mein letzter Bettnachbar hat erst zwölf Stunden nach der OP Wasser gelassen und ich bekomme nach drei Stunden einen Katheter. Können Sie mir das erklären?«
Eine halbe Stunde später fragte sie noch einmal. Ich schüttelte den Kopf und sie sagte ungehalten: »Dann bekommen Sie nichts zu essen. Tut mir leid, aber das ist wichtig.«
Das war mir egal, denn ich wollte nichts essen. Wieder war mir eine gewisse Verbitterung aufgefallen, die Schwestern oft im Umgang mit Patienten zeigten. Anscheinend ging es nicht mehr ohne Palaver, Drohungen und angekündigte Bestrafung.