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Reinhard Mrosk: Der Dunkelgraf und der Schatten einer Frau, Roman, 536 Seiten, Gebunden, ISBN 978-3-941535-04-6
In einer Winternacht des Jahres 1807 erreicht eine herrschaftliche Kutsche die kleine Residenzstadt Hildburghausen. Auf Befehl des herzoglichen Hofes erfolgt keine Kontrolle. Nicht weniger merkwürdig verläuft das weitere Leben des Ankömmlings in diesem Land. Er lebt von der Öffentlichkeit völlig zurückgezogen, führt dennoch einen aufwendigen Lebensstil und geizt nicht mit Geld. Woher dieser Reichtum stammt, bleibt im Dunkeln, wie seine Herkunft und Identität. Er bezieht ein abgelegenes Schloss, das er in den folgenden 35 Jahren bis zu seinem Tod kaum verlassen wird.
Zu ihm gehört eine Frau, die versteckt und beschützt wird wie ein kostbarer Schatz. Wird sie gesehen, ist sie stets tief verschleiert. Nie zeigt sie ihr Gesicht, nie spricht sie ein Wort. Es entsteht der Verdacht, sie sei eine Gefangene ...
Diese Geschichte ist eines der merkwürdigsten Rätsel der europäischen Vergangenheit und einer der ungewöhnlichsten Kriminalfälle. Es ist eine Geschichte, die unlängst durch eine Graböffnung in Hildburghausen in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt ist. Dort wurde unter großer Beteiligung der Medien das Grab der sogenannten Dunkelgräfin geöffnet, um DNA-Material für ihre Identifizierung zu entnehmen.
Autor und Verlag möchten an dieser Stelle nicht dieses Vorgehen beurteilen, sich auf den Hinweis beschränken, dass der vorliegende Roman Einblick in die Vorgeschichte und die Hintergründe gibt. Dazu werden mehr als zehn grobe Fehler bereinigt, die "Dunkelgrafenforscher" seit Jahrzehnten einander nachgedruckt haben. Autor R. M. dazu: "eigentlich sind es mehr, aber einiges kann man als bloße Ungenauigkeiten werten."
Der Roman lässt eine vergangene Zeit wieder auferstehen und enthüllt dabei manches Geheimnis. Die Handlung beruht auf Tatsachen, fast alle Romangestalten, einschließlich der Diener, haben gelebt. Die äußere, abenteuerliche Handlung gewährt dem Leser einen Blick hinter die Kulissen bedeutender politischer Ereignisse. Er erfährt, wie das Leben im verbarrikadierten Schloss verlief, ohne jeden Kontakt. Was geschah dort? Wie gestalteten der Mysteriöse und die verschleierte Dame die Jahre, womit beschäftigten sie sich, um nicht in Wahnsinn zu verfallen.
Oder waren sie es bereits ?
Der geheimnisvolle Fremde
1.
Der Februar des Jahres 1807 begann in Hildburghausen mit einem schweren Sturm. Er schüttelte das Geäst der Bäume, riss den zuletzt gefallenen Schnee von den Dächern und trieb ihn in langen Fahnen durch die Gassen. Die Stadt lag unter einer dicken Schneedecke und ihr ohnehin stilles Leben schien gänzlich im Frost erstarrt. Mit Beginn der Dämmerung kam der spärliche Verkehr fast völlig zum Erliegen, während der aus Schornsteinen aufsteigende Rauch dabei war, blaue Lasuren über das schneebedeckte altertümliche Rathaus zu malen.
Zu den wenigen Leuten, die noch draußen waren, gehörte der in einen dicken Fuchsmantel gehüllte Johann Carl Andrae, eine der angesehensten Persönlichkeiten der Stadt. Er war Kaufmann und Bankier und verfügte über gute Verbindungen zum herzoglichen Hof, was ihm den Leutnantsrang und die Titel Senator und Hofrat eingebracht hatte. Er galt als umtriebiger Mann. Jetzt war er unterwegs, um im Auftrag eines Geschäftsfreundes vornehme Räume anzumieten. Das war nicht leicht, denn obwohl Hildburghausen eine Residenz war, gab es hier, abgesehen von einigen Ausspannungen, nur wenige Häuser, die man als Gasthöfe bezeichnen konnte. Dazu kam die Bedingung, dass dort keine Franzosen logieren sollten. Im Braunen Roß, in dem vor Jahren Goethe abgestiegen war, wohnten die Offiziere einer französischen Kavallerieabteilung von 400 Mann, die in Hildburghausen stationiert war und vom Land ernährt werden musste. Sie war eine ständige Erinnerung daran, dass der Landesherr mit Napoleon verbündet war.
Zwei Häuser weiter lag der Englische Hof und der Senator lenkte seine Schritte dorthin. Nur selten blickte er auf, denn der Wind blies ihm beißend ins Gesicht. Die über dem Eingang hängende Laterne wies ihm den Weg. Das Gasthaus war ein ansehnliches zweistöckiges Gebäude, neu errichtet nach dem großen Stadtbrand von 1779 mit allerlei Verzierungen im Stil des Rokoko. Obwohl es sich in einen Winkel des Marktplatzes schmiegte, bildete es einen Blickfang.
Andrae klopfte sich den Schnee von den Stiefeln und trat in den Schankraum neben der Toreinfahrt. Frau Marquardt, die mollige Inhaberin, verließ ihr altfränkisches Schreibpult am Fenster und eilte ihm entgegen, erstaunt, den stadtbekannten Mann zu sehen. Der Senator musterte die wenigen Zecher im hinteren Teil der Stube. Diese hockten mit zusammengesteckten Köpfen an ihren Tischen und unterhielten sich leise, so als tauschten sie Geheimnisse aus. Hildburghausen war kein Ort für lautes Amüsement, schon gar nicht in diesen Zeiten, wo ein falsches Wort fatale Folgen haben konnte. Die Gäste waren ausnahmslos ortsansässig, Söhne gut situierter Bürger, zumeist als Taugenichtse bekannt.
„Madame Marquardt!“, sagte Andrae in feierlichen Ton, wenngleich mit gedämpfter Stimme. „Ich melde Ihnen die Ankunft eines seigneurialen Herrn. Er will auf unbestimmte Zeit eine Reihe Ihrer vornehmsten Räume belegen, aneinander liegend und separat.“
Die Wirtin blickte verdutzt auf. „Separat? In einem Gasthof geht das nicht.“ Doch sie hatte sich sogleich gefangen, ein Gedanke schien ihr gekommen. „Es sei, er nimmt den ganzen zweiten Stock. Das wäre dann separat.“
„Der Herr fragt nicht nach den Preisen“, antwortete Andrae mit ruhigem Gewissen, denn so hatte es im Schreiben seines ehrbaren Geschäftsfreundes Goullet aus Frankfurt, für den er diese Angelegenheit vermittelte, geheißen. „Er stellt allerdings Bedingungen. Darüber hinaus darf ich Ihnen mitteilen, dass ich auf allerhöchsten Wunsch handle und Sie zur Verschwiegenheit ermahnen muss.“ Er wandte den Blick in Richtung Werrafluss, wo das Schloss stand.
Frau Marquardt hatte begriffen und nickte mit vielsagendem Blick. Es war nicht ungewöhnlich, dass Fremde von Rang Aufenthalt in der kleinen Residenzstadt nahmen und sich auf gute Beziehungen zum Hof beriefen. Das war nach Ausbruch der Revolution in Frankreich häufiger geschehen. Es waren die Jahre gewesen, als die von dort kommenden Emigranten noch über Geld verfügten und es mit vollen Händen ausgaben. Später waren viele mittellos und zu Schnorrern geworden. Für solch einen aber hätte sich Herr Andrae nicht verwendet. Sein Bemühen in dieser Sache gab allem Seriosität und Sicherheit.
„Bedingungen?“, wiederholte die Wirtin. Sie dachte an besondere Anforderungen, die Küche betreffend. Doch bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, sagte Andrae: „Der Gast wird gegen Mitternacht eintreffen. Die Räume müssen gut geheizt, vorgerichtet und mit ausreichend Kerzen ausgestattet sein.“ Der Senator unterbrach seinen Vortrag und sah noch einmal zu den Gästen. Keiner schien ihm seine Aufmerksamkeit zu schenken und so fuhr er im Flüsterton fort. Der Wagen des Fremden würde durch das Tor in die geräumige Halle des Gasthofes einfahren und am Treppenaufgang halten. „Treppenhaus und der Weg zu den Zimmern müssen hell erleuchtet sein. Kein dunkler Fleck, Madame Marquardt!“ Wirtin und Hauspersonal hätten sich zurückzuziehen. Keine Begrüßung, keine Reverenzen, das wurde ausdrücklich gefordert. „Der Graf verfügt über eigene Bedienung. Sie haben dafür zu sorgen, dass der Herr seine Gemächer erreicht, ohne gesehen zu werden und fortan von niemand belästigt wird. Er wünscht, zurückgezogen zu leben. Es muss sicher sein, dass kein Neugieriger in seine Räume gelangt. Das gilt auch für Sie und Ihr Personal.“
Frau Marquardt stutzte. „Es muss geputzt werden, Holz zu den Öfen gebracht, die Asche …“
„Alles nicht Ihre Sache, Madame“, unterbrach sie Andrae.
Der in Aussicht gestellte Mietpreis war hoch, dass die Wirtin gern bereit war, auf die Bedingungen, die genau besehen die Launen eines Sonderlings waren, einzugehen. „Das scheint ja ein merkwürdiger Kauz zu sein“, sagte sie trocken. „Da Sie selbst, Herr Hofrat, sich für den Mann verwenden, soll alles geschehen, wie gewünscht. Dennoch, diese Anreise zur Geisterstunde ist schon seltsam, immerhin sind die Tore geschlossen.“
Andrae legte den Zeigefinger vor seine Lippen. „Stillschweigen, Madame Marquardt!“, mahnte er. „Zu niemand ein Wort!“ Über die Dauer des Aufenthalts wurde nichts vereinbart, aber eine Kündigungsfrist von einer Woche festgelegt. Andrae leistete eine Anzahlung für zwei Wochen und reichte der Wirtin einen Zettel. „Ich habe den Namen des Herrn aufgeschrieben“, sagte er. „Er heißt Graf Vavel de Versay. Wenn die Polizei Auskunft wünscht, soll sie sich an meine Person halten. Mehr ist zu allem nicht zu sagen.“ Danach entfernte sich der Kaufmann, ohne die Zecher in der Gaststube eines weiteren Blickes zu würdigen.
Zwei Tage darauf, gegen Mittag, erschien Andrae wieder im Englischen Hof, um den von ihm angemieteten zweiten Stock in Augenschein zu nehmen. Den Senator begleitete ein wuchtig auftretender Mann mit weißblonden Haaren und versteinertem Blick. Er trug einen bis zum Hals geschlossenen langschößigen Rock und einen steifen Hut, sein Auftreten erinnerte an einen Gutsverwalter oder Haushofmeister eines aristokratischen Herrn. Ein Vorstellen unterblieb, kein Wort kam dem Fremden über die Lippen und die Wirtin hielt es für angebracht, keine Fragen zu stellen. Nachdem die Räumlichkeiten und der Hof besichtigt waren, redete er leise mit Andrae, der sich daraufhin an die Wirtin wandte. Es ging um die Unterbringung und Versorgung von zwei Pferden und einen sicheren Abstellplatz für eine Kutsche auf dem Hof. Die Wirtin wollte für einen Stall mit frischem Stroh und Futter sorgen. Hilfe beim Ausschirren und Versorgen der Pferde lehnte der Fremde ausdrücklich ab, wonach er sich grußlos abwandte und ging, gefolgt von Andrae.
Später erfuhr Frau Marquardt von ihrem Hausknecht, dass sich der griesgrämige Lakai den ganzen Tag in Hildburghausen aufgehalten hatte, ohne mit jemand außer Andrae zu sprechen. Er soll wie ein Spion durch die Gassen gewandert sein, wollte sich wohl ein Bild von der Stadt und der gegenwärtigen Stimmung machen. Die Wirtin schwatzte noch mit dem Knecht, als ein Botenjunge ein Schreiben Andraes überbrachte. Der Senator kündigte das Eintreffen des Grafen für den 7. Februar gegen Mitternacht an.
2.
Die Nacht war kalt, kälter als die vorangegangenen. Der Glockenschlag hatte die elfte Abendstunde angezeigt, als der Wachtmeister Friedemann Knüpfer am Römhilder Tor eintraf. Er kam geradewegs aus der Schenke und roch nach Branntwein. Die beiden Wächter hatten sich in die Stube neben dem Tor zurückgezogen, wo sie am Eisenofen hockten und abwechselnd Holz nachlegten. Die Tore waren verschlossen, kein Fremder konnte nachts in die Stadt gelangen, es sei denn gegen ein Schließgeld und nach eingehender Überprüfung. Herzog und Bürger sollten ruhig schlafen können.
Der Wachtmeister hustete, räusperte sich und zog ein Schnupftuch aus der Manteltasche. Nachdem er sich geschnäuzt und die Enden seines struppigen Schnurrbartes mit Daumen und Zeigefinger bearbeitet hatte, sagte er: „Kerls, ihr öffnet jetzt das Tor. Gegen Mitternacht wird der Wagen eines vornehmen Herrn erwartet. Dieser wird unbehindert passieren. Kein Halten, keine Kontrolle! Verstanden Kerls!“
„Woran sollen wir erkennen, dass es der Richtige ist?“, fragte einer der Wächter.
„Der Kutscher gibt ein Zeichen“, erklärte der Wachtmeister.
„Wie soll das aussehen?“
„Ein Zeichen eben“, erwiderte der Wachtmeister barsch und ließ sich auf einen Schemel am Ofen nieder. Der Weg vom Wirtshaus zum Tor durch die öden Straßen der schlafenden Stadt hatte ihn atemlos gemacht. Er öffnete den Mantel, dessen Tuch brüchig war und Farbe verloren hatte. Der Herzog geizte bei Ausgaben für seine hundertköpfige Streitmacht, die sowieso nur für Wachdienste eingesetzt wurde. Besser ausgerüstet aber war das neue Detachement, das er für Napoleon aufstellen ließ. Seit einigen Wochen gehörten die sächsischen Herzogtümer zum Rheinbund und waren die Verpflichtung eingegangen, sich an jedem Kontinentalkrieg Frankreichs mit 2.800 Mann* zu beteiligen. Der dafür gebildete Verband trug den Namen Regiment der Herzöge von Sachsen.
„Der Leutnant hat Zeichen gesagt, mehr nicht.“
Noch einmal wurde Holz nachgelegt, dann machten sich die Wächter fertig. Sie knöpften die Mäntel zu, setzten sich die Hüte auf und griffen nach ihren Gewehren. Der Wachtmeister folgte ihnen mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. Es war kurz vor Mitternacht, wieder fiel Schnee. Die Flügel des Stadttores wurden geöffnet, davor lag die schneebedeckte Chaussee. Die Nacht war klar, auch erhellte der Schnee die Landschaft auf seltsame Weise. Mitternacht war heran. Wie aus dem Nichts kommend, tauchte plötzlich eine von zwei Schimmeln gezogene Kutsche auf.
Es war ein hochrädriger Reisewagen, geschlossen und vornehm. Er näherte sich in zügiger Fahrt dem Stadttor. Der Kutscher war in einen dicken Mantel gehüllt und hatte den Hut tief in die Stirn gezogen. Sein Gesicht war mit einem Schal umwickelt und nicht zu sehen. Kurz vor dem Torbogen hob er grüßend die behandschuhte Hand, doch nur flüchtig. Er griff sofort wieder nach den Zügeln und lenkte beidhändig das Gespann durch die enge Einfahrt, ohne dabei langsamer zu werden.
Noch während der Hufschlag der sich in Richtung Marktplatz entfernenden Pferde zu hören war, fragte einer der Wächter: „Was sollen wir ins Torbuch eintragen?“
„Nichts!“, antwortete der Wachtmeister ungehalten. Er wandte sich zum Gehen, doch nach einigen Schritten blieb er stehen und sagte: „Kein Wort über den Vorfall! Das hat der Leutnant befohlen! Außer mir wisst nur ihr beide davon. Sollte etwas verlauten, kann das nur von euch gekommen sein!“
Im Städtchen herrschte tiefe Ruhe, auch war kaum ein erleuchtetes Fenster zu sehen. Man sparte an Kerzen, ging zeitig zu Bett. Nur das von einer herrschaftlich anmutenden Freitreppe gezierte Haus des Geheimrates Röder, das in Hildburghausen Hoheitshaus genannt wurde, zeigte sich in hellem Lichterglanz. Passanten waren nicht mehr unterwegs, nur einmal bemerkte der Kutscher im Dämmerschein einer schwankenden Straßenlaterne eine Gestalt, die sich an eine Hauswand drückte, während der Wagen in der engen Gasse vorbeirollte. Es war wohl eine der sogenannten Schleichwachen.
Die Kutsche erreichte den Marktplatz, wo einige erhellte Fenster die in Sturm und nächtlicher Dunkelheit düster wirkende Front der Fassaden fleckenartig durchbrachen. Schneemassen türmten sich auf den Dächern und nicht nur das Gebälk des altehrwürdigen Rathauses, dessen Grundmauern noch aus der Zeit der Grafen von Henneberg stammten, schien unter dem Druck zu ächzen. Der Kutscher kannte den Weg, lenkte zielsicher das Gefährt zum Englischen Hof. Im stärker gewordenen Schneefall war das Schild des Gasthofes teils mit Flocken bedeckt, die Schrift kaum zu erkennen. Das Tor stand offen, Windlichter beleuchteten die menschenleere Halle. Der Kutscher betätigte die Bremse und schaute sich um. Scheinbar befriedigt vom Umfeld knallte er mit den Zügeln und die Pferde zogen den Wagen durch den Torbogen und vor den Treppenaufgang.
Das ganze Haus lag in hellem Kerzenschein und niemand war zu sehen – alles wie verlangt. Der Kutscher sprang vom Bock, behände und kraftstrotzend. Obwohl er nicht mehr der Jüngste war, schien ihm die vermutlich lange Fahrt auf dem Bock nichts ausgemacht zu haben. Er schloss das Tor, verhinderte jede Kenntnisnahme durch fremde Blicke.
* Gotha 1.100 Mann, Weimar 800, Koburg 400, Meiningen 300, Hildburghausen 200.